Schermbecker Forum

Knallhart kalkuliert
Die Welt ist nicht gerecht, das wissen wir alle. Während deutsche Diesel-Besitzer für die Manipulationen des VW-Konzerns finanziell gerade stehen müssen, haben sich die Vorstände gerade gut 50 Millionen Euro an Bonuszahlungen genehmigt. Grund: Das Unternehmen macht Umsatzrekorde und hat im vergangenen Jahr seinen Gewinn verdoppelt. Über zehn Millionen Euro wandern auf das Konto von Konzernchef Matthias Müller. Ein Aufschrei der Bürger blieb bisher aus. Vielleicht weil die Zahlen zu abstrakt sind? Um die Äußerungen von Gesundheitsminister Jens Spahn jedenfalls gab es genug Aufregung. "Mit Hartz IV hat jeder das, was er zum Leben braucht", hat er gesagt. Wir haben das einmal nachgerechnet. Für Hartz IV-Empfänger sieht der Gesetzgeber genau 416 Euro im Monat vor. Dieser Betrag kommt nicht von ungefähr, sondern ist genau durchkalkuliert. 10,35 Euro beispielsweise sind für Kneipen, Hotels und Restaurants vorgesehen, 1,06 Euro für Bildung. Richtig gelesen: 1,06 Euro. Im Monat. Meine Kollegen Johannes Bebermeier und Jonas Mueller-Töwe sind die Liste des Regelsatzes mit Hartz IV-Empfängerin Sandra S. Punkt für Punkt durchgegangen. Für Nahrung und Getränke zum Beispiel hat Sandra S. genau 145,04 Euro im Monat zur Verfügung. Das sind fünf Euro am Tag – für sie und ihren Sohn. Bei Bekleidung und Schuhen sind 36,05 Euro vorgesehen. Besonders schwer ist das manchmal für ihren zehnjährigen Sohn. "Natürlich sucht er sich im Geschäft die Schuhe für 80 Euro aus. Dann muss ich ihm sagen, dass das nicht geht. Es tut mir in der Seele weh. Aber er versteht es meist." Unsere Geschichte heißt: "Für Kaffee ist kein Geld da".


Rüdiger Schmitz Norman

Energiekosten ( Strom ), Telekommunikationskosten für Festnetz und Mobile Phone, Briefmarken, Schreibwarenartikel, Portokosten,
Hygieneartikel ? Haushaltsreinigungsmittel ?
und die Zuzahlung von vielen Medikamenten sind auch nicht in der Grundsicherung enthalten.

BERLIN Sozialminister Hubertus Heil tritt dem Kabinettskollegen Spahn entgegen. Er will Langzeitarbeitslose in gemeinnützige Arbeit bringen.

Berlin Immer mehr Politiker wenden sich gegen Hartz IV. Auch aus der SPD, die das System einst einführte, gibt es Vorschläge für Alternativen.

Florian Harms
Wenige Großreformen der deutschen Politik sind auch Jahre nach ihrer Umsetzung so umstritten wie Hartz IV. Der Streit lässt sich nicht ausschließlich damit begründen, dass die Debatte über die Sozialgesetze in zahlreichen Wahl- und politischen Grabenkämpfen instrumentalisiert wurde. Es sind die Fakten selbst, die den Streit befeuern.

Einerseits haben die Hartz-Gesetze die deutsche Wirtschaft nach Jahren der Agonie wiederbelebt und viele Branchen im globalen Wettbewerb wieder wettbewerbsfähig gemacht. Dass die deutsche Wirtschaft seit Jahren brummt, während sie in vielen unserer Nachbarländer stagniert oder schwächelt, gründet zu einem erklecklichen Teil in Gerhard Schröders Agenda 2010. In Frankreich brauchte es erst einen Zusammenbruch des bestehenden Parteiensystems, bis “Messias“ Macron ähnliche Großreformen anpackte.

Andererseits hat die Agenda-Politik viele Menschen in prekäre Lebensumstände gestürzt. Armut, bürokratische Pfennigfuchserei, unsinnige Vorschriften machen das Leben mit Hartz IV für Tausende Bürger zu einer Zumutung. Verständlich, dass bei vielen Betroffenen der Zorn wächst, wenn sie sehen, wie Top-Manager Gesetze brechen – und dann mit einem goldenen Handschlag in den Millionärs-Ruhestand befördert werden. Siehe VW, siehe Deutsche Bank, siehe Siemens.

Was aber erst recht vielen Menschen die Zornesröte ins Gesicht treibt: Wenn gut situierte Politiker mit flapsigen Sprüchen mal eben alle Hartz-IV-Bezieher von oben herab belehren und deren harten Alltag verharmlosen. An dieser Stelle kommt Jens Spahn ins Spiel, der neue Gesundheitsminister. Wenn er den Mund aufmacht, hört man oft Dinge, die ins PPP-Schema passen: provozieren, pauschalisieren, profilieren.

Authentisch? Wohl durchdacht? Wirkt das selten.

Wie viel authentischer klingt da der Wutausbruch der Fachkrankenschwester Jana Langer, die Spahn in einem offenen Brief an den Pranger stellt.


Eines hat Spahn mit seinen PPP-Sätzen allerdings geschafft: Er hat eine neue Debatte über Hartz IV angestoßen – und sofort sind die alten Fronten wieder aufgebrochen: Die Gesetze sind eine unverzichtbare Basis des deutschen Wirtschaftswohlstands, sagen die einen. Die Gesetze sind ungerecht und müssen abgeschafft werden, sagen die anderen. Der Streit geht nicht nur quer durch die Parteienlandschaft, sondern auch quer durch die neue Bundesregierung. Eine gute Vorlage also für meinen Kollegen Johannes Bebermeier. In seiner Analyse beschreibt er, warum die Abschaffung der Agenda-Gesetze unrealistisch ist – und warum die Hartz-Reformen trotzdem unbedingt einer Reform bedürfen.

Liebe SPD,
ich war eins von Millionen Kindern in Deutschland, die von Hartz IV leben. Wenn jetzt ein paar von euch über ein "solidarisches Grundeinkommen" sprechen, und das “Ende von Hartz IV” vorhersehen, dann denke ich vor allem zurück an das Jahr 2010.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will nicht einen Monat von Hartz-IV leben. Das verwundert Sie jetzt nicht? Mich ehrlich gesagt auch nicht. Und ganz ehrlich: Gut so. Uns allen bleibt ein Schmierentheater erspart. Zumal wäre es mit seinem Amt wohl etwas schwierig geworden. Aber was hätte das auch bringen sollen? Noch mehr Aufmerksamkeit für den Minister? Tägliche Wasserstandsmeldungen über sein Budget, seine Mahlzeiten und Einkäufe? Gott bewahre. Außerdem wäre nach vier Wochen alles vorbei gewesen. Aus den tatsächlichen Sorgen der Menschen sollte man kein Experiment oder Abenteuer machen.

Nicht einmal 2.000 Euro brutto verdienen rund 18 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland. Trotz Vollzeit. Ein ostdeutsches Land ist am schlimmsten betroffen.

Seit Jahren rechnet die Bundesregierung den Hartz-IV-Regelsatz nach unten. Nach Monitor-Berechnungen müssten Empfänger monatlich 155 Euro mehr bekommen. Der Staat spart Milliarden.

Von Jan Schmitt und Gitti Müller, WDR

Hartz-IV-Empfänger erhalten ab 2019 laut einem Medienbericht eine höhere finanzielle Unterstützung. Wie stark der Regelsatz angehoben werden soll, lesen Sie hier.