Liebe Leser*innen,
"harte Verhandlungen“ gingen der Einigung der Regierungs- und Staatschefs der EU-Staaten zum regulären Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) in Höhe 1,07 Billionen Euro und dem sogenannten Recovery-Fonds in Höhe von 750 Milliarden Euro voraus. Hart ist vor allem das Ergebnis: nur noch 390 Milliarden Euro (statt 500 Milliarden) sollen als direkte Zuschüsse im Recovery-Fonds fließen, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzumildern – geknüpft an „Reformen“. Das dürfte aber gefährlich werden. Denn in der Vergangenheit führten die von der EU verlangten Reformen zu Kürzungen beispielsweise im Gesundheitswesen. Auch jetzt dürfte Druck ausgeübt werden, um Kürzungen in der sozialen Infrastruktur und Privatisierungen der öffentlichen Daseinsvorsorge in den Ländern durchzusetzen.
Viel gestritten wurde darüber, wer wie darüber entscheidet, wie welche Gelder hinfließen sollen. Kein Thema hingegen waren die notwendigen sozialpolitischen Konditionen für die Mittelvergabe an Unternehmen und die soziale Not, die diese Krise auslöst. Nicht einmal ein wirklicher Rechtsstaatlichkeitsmechanismus (z. B. in Hinblick auf Polen und Ungarn) und konsequente klimafreundliche Konditionen wurden durchgesetzt, obwohl die EU sich immer wieder als Wertegemeinschaft rühmt.
Während das „NextGeneration“-Paket vor allem großen Unternehmen und Konzernen helfen soll, wird kleinen Unternehmen wenig Beachtung geschenkt. Die Interessen der abhängig Beschäftigten spielen kaum Rolle.
Die Kredite, die nun in Höhe von 360 Mrd. € vergeben werden sollen, stellen keine wirkliche Hilfe dar. Sie werden vielmehr das Wohlfahrtsgefälle innerhalb der EU verstärken – und bezahlen werden für solche „Hilfen“ direkt oder indirekt die arbeitenden und finanziell benachteiligten Schichten.
Diese werden auch betroffen sein von den Kürzungen des MFR zum Beispiel im Gesundheitsetat. Profitieren werden im Gegenzug Rüstungskonzerne die erstmalig mit verschiedenen Budgetlinien in Milliardenhöhe bedient werden (dazu weiter unten eine Pressemitteilung von mir).
Was bei der Berichterstattung über die „Einigung“ beinahe untergegangen ist: zumindest der MFR muss vom EU-Parlament noch beschlossen werden.
Das befindet sich aber bis Ende August erst einmal in der Sommerpause, und ich genieße nun auch etwas freie Zeit und freue mich auf zahlreiche Begegnungen im Rahmen des Kommunalwahlkampfs der LINKEN in NRW, den ich nach Kräften unterstützen werde.
Euch und Ihnen wünsche ich eine angenehme, auch erholsame Sommerzeit und alles Gute!
Herzlich
Özlem Alev Demirel
Schwerpunkt:
Erwerbstätigenarmut in Europa
Jeder 10. Beschäftigte in der Europäischen Union kann von seiner Arbeit nicht mehr leben, rund 95 Millionen Menschen in der EU leben bereits in Armut oder sind von ihr bedroht. 20,5 Millionen davon befinden sich in Beschäftigungsverhältnissen. Das sind die erschreckenden Kernzahlen aus dem Initiativbericht zur „Verringerung der Ungleichheiten mit besonderem Augenmerk auf der Erwerbstätigenarmut“, den ich am 15. Juli in den Ausschuss für Beschäftigung und Soziales (EMPL) eingebracht habe.
Wenn die EU-Kommission nicht weiterhin zusehen möchte, wie die Schere zwischen Arm und Reich und zwischen den Mitgliedsstaaten auseinander geht, dann ist es höchste Zeit den Schalter umzulegen. Die Zahlen sprechen für sich: Während die unteren 20% der privaten Haushalte in der Eurozone mit netto durchschnittlich 4500 € verschuldet sind, haben die reichsten 10 % ein Nettovermögen von durchschnittlich 1.189.700 € zur Verfügung.
Früher galt der Grundsatz, dass das beste Mittel, um Armut zu bekämpfen, ein sicherer Arbeitsplatz ist. Doch auch dieser Grundsatz ist schon lange überholt, immer weniger Menschen können von ihrer Arbeit leben.
Die Beschäftigten in Europa befinden sich vielmehr in einem Spielfeld des Lohnunterbietungswettbewerbs. Gig-, Plattform- und Crowdworker, Schein- und Solo-Selbständige, Ausgliederungen, Fremdvergaben, Sub-Unternehmer-Ketten, Werkverträge, alles Gang und Gebe im Repertoire der Unternehmen.
Folge ist seit Jahren ein Boom der Niedriglohnsektoren und prekären Beschäftigungen, nicht nur im Süden oder Osten Europas, sondern auch in Mitteleuropa. Es verwundert kaum, dass der der Anstieg von atypischen Beschäftigungsverhältnissen in den letzten zehn Jahren deutlich höher ist als der Gesamtstellenzuwachs in der EU.
Die EU hat ihr eigenes „2020- Ziel“, die Anzahl der Menschen, die von Armut bedroht sind, um 20 Millionen zu verringern, mehr als verfehlt.
Auch, weil die COVID-19-Folgen die bereits jetzt alarmierende Situation weiter zuspitzen wird, ist ein europaweiter Mindestrahmen für die Menschen notwendig.
Verbindliche Regelungen für armutsfeste Mindesteinkommen, Mindestlöhne und Mindestrenten sind ebenso notwendig wie Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigungen. In diesem Zusammenhang gilt es insbesondere auch Tarifverträge und die Rolle von Gewerkschaften zu stärken, heißt es in meinem Initiativbericht, der nach seiner Einbringung in den nächsten Monaten intensiv diskutiert werden wird und zu möglichst klaren Beschlüssen führen soll. Den Initiativbericht kann man
hier nachlesen